29.12.12

Konsequenzen aus dem Nearshoring

In England hängt jeder dritte Arbeitsplatz direkt oder indirekt von den Finanzdienstleistungen der »City« (of London) ab. Noch zur Jahrtausendwende konkurrierten Städte wie Birmingham, Bristol und Bournemouth erfolglos mit asiatischen Metropolen wie Bangalore und Hyderabad um Arbeitsplätze im Back-und Middle-Office und in Call-Centern. Offshoring war damals der Trend.
 
Diese Rivalität existiert auch heute noch, der Wind hat jedoch gedreht. Arbeitsplätze namhafter, internationaler Investmentbanken und Versicherungen wie Bank of America, JP Morgan und Deutsche Bank werden jetzt bevorzugt in umliegende Städte und Gemeinden verlegt. Die Ausgliederung von Geschäftsprozessen ins nähere Umland wird als Nearshoring bezeichnet. 

Besonders ausgeprägt ist dieser Trend in England. Wohl auch, weil wohl nirgends in Europa, die Gegensätze so »krass« sind. Nur wenige Kilometer außerhalb der Stadtgrenzen Londons sind Gehälter bis zu 40% niedriger; Immobilien kosten oft nur die Hälfte; Verkehrsverbindungen sind exzellent. »Young Potentials« aus umliegenden Universitäten wird »ein roter Teppich« für eine Familiengründung ausgerollt. »Wir glauben, wir haben wahrscheinlich die großzügigste Aus- und Weiterbildungsförderung für die Schaffung von Arbeitsplätzen überall in Großbritannien«, so ein walisischer Politiker einer mittelgroßen Stadt und Förderer des Nearshoring-Trends.

Sie haben eigentlich auch kaum eine andere Chance. Acht der britischen 10 größten Finanzinstitute haben nach Angaben der Financial Times nach dem Beihnahzusammenbruch des britischen Banksystems 2008 in großem Stil Dienstleistungen ins Ausland ausgegliedert.
Jüngstes Beispiel für den Trendwechsel ist die Royal Bank of Scotland, die fast 300 Arbeitsplätze von der City of London nach Manchester verlagert hat. Es ist geplant, weitere 100 in den nächsten 12 bis 18 Monate folgen zu lassen. Die Bank of New York Mellon, die bereits 2005 einen Großteil ihrer globalen Transaktionen nach Manchester ausgegliedert hat, beschäftigt dort heute mehr als 1.000 Mitarbeiter in Back-Office-Funktionen. Die Bank beschreibt Manchester, zusammen mit Pune, Indien und Pittsburgh in den USA, als eine seiner »drei Globalen Wachstumszentren«.

Stellt dieser »Trend« für den asiatischen Arbeitsmarkt eine Gefahr dar? Schließlich waren es die europäischen Unternehmen der Finanzdienstleistungs- und IT-branche, die an die Fähigkeiten des asiatischen Arbeitsmarktes glaubten und vor gut einer Dekade ganze Geschäftsprozesse in asiatische Dienstleistungsunternehmen auslagerten. Oder ist die Eigendynamik in den asiatischen Wirtschaftszentren inzwischen groß genug, um diese Abwanderung zu kompensieren? In diesem Falle wäre Offshoring eine (erfolgreiche) kapitalistische Form der Entwicklungshilfe, die jetzt ausläuft. 

Die Dienstleistungsbranchen in den Industrieländern profitieren zwar von dieser Entwicklung. Ob sich hieraus Investment-Gelegenheiten ableiten, muss jedoch bezweifelt werden. Schließlich entstehen keine hochwertigen Arbeitsplätze, die hohe Erträge erwarten lassen. Statt dessen entwickelt sich eine Dienstleistungsbranche, die sich durch niedrige Löhne, geringe Deckungsbeiträge und folglich (bei einer Börsennotierung) wenig attraktiven Dividendenrenditen »auszeichnet«. 
So ist diese Entwicklung eher symptomatisch für einen gefährlichen Trend in den heutigen Industrieländern. Auf der einen Seite entstehen wenige qualifizierte (margenstarke) Arbeitsplätze. Dominant ist dagegen der Aufbau von vielen »einfachen« Arbeitsplätzen, die  wenig Wachstumsdynamik versprechen.

10.12.12

AGWM (Angry Gray White Man)

In dem Wochenbericht → 46/12 vom 17.11 bin ich auf den Ausgang der US-Wahl und die gerade unter den konservativen weißen (und weisshaarigen) Männern verbreitete Enttäuschung über die Wiederwahl des verhassten »Liberalen« Obama eingegangen.

Die AGWM bilden die überwiegende Mehrheit der Aktienbesitzer in den USA. Ihre Altersvorsorge ist klassischerweise kapitalmarktorientiert. Sie verlassen sich wenig auf staatliche Sozialsysteme und sind über deren Entwicklung nach europäischem Vorbild entsetzt.

In einer ersten Trotzreaktion veräußerten die enttäuschten Wähler ihre Aktienbestände – was zu einem kurzfristigen Sell-Off an den Aktienmärkten führte. Insbesondere bei für die Altersvorsorge gut geeigneten Aktien mit hohen und konstanten Dividendenausschüttungen entstand ein erheblicher Verkaufsdruck mit entsprechend großen Abschlägen. Im → Martkbericht 46/12 
hatte ich in diesem Zusammenhang auf den Preisverfall des »Alpine Global Dynamic Dividend Fund« (Kürzel: AGD) hingewiesen.

In den letzten Wochen haben sich die Aktienmärkte von diesen Abgaben weitgehend erholt. Hier der Preisverlauf des S&P 500-ETF:

Haben die AGWM nun ihren Fehler eingesehen und sich mit den Rahmenunständen arrangiert?

Vermutlich nicht.

Die Verkaufszahlen für »American-Eagles«, Goldmünzen, die auch als offizielles Zahlungsmittel gelten, sind im November förmlich explodiert. Auch die kanadische Münzanstalt meldet Rekordabsätze für »Marple Leaf's«. Im November wurden allein US-Goldmünzen im Wert von 230 Millionen US-Dollar abgesetzt (136.500 Unzen).

Die Goldkäufe der verärgerten US-Kleinanleger stehen im Kontrast zum Verhalten der institutionellen Anleger. Die haben in den letzten Wochen nämlich ihre Engagements abgebaut. Auch die Gold-Nachfrage in Asien ist wegen der Abwertung einiger lokaler Währungen (z.b. ind. Rupie) gefallen.

Die Trotzreaktion unserer AGWM könnte sich als teures Unterfangen und strategisches Fehlinvestment entpuppen. Die erworbenen Goldmünzen sind bereits im Wert gefallen. Wären die Kleininvestoren einfach in ihren Positionen geblieben, könnten sie nach heutigem Stand einen versöhnlichen Jahresausklang erlebt. Nun stehen sie ohne werthaltige Investments, dafür aber mit einem Berg schön anzuschauender Goldmünzen da.

07.12.12

Aktienpreise steigen – aber warum nur? (Teil 2)

Anfang Oktober beleuchtete ich in einem Tagebucheintrag den damals für viele räselhaften Preisanstieg, hauptsächlich an den US-Aktienmärkten.

Als preistreibende Komponente identifizierte ich damals die unattraktiven Anleihenrenditen, die Investoren scharenweise in die Fänge der risikobehafteten Aktienmärkte treiben.

In einem Marktkommentar hat HSBC heute den Renditeverlauf deutscher Staatsanleihen mit 10 Jahren Restlaufzeit seit Juli 2009 abgebildet: Anfang Oktober betrug die Rendite 1,6 Prozent. Derzeit erzielen diese Anleihen eine Rendite von etwas mehr als 1,3 Prozent pro Jahr. Seit Oktober ist die Rendite also um fast 0,3 Prozent gefallen. Fast identische Entwicklungen sind in England, Japan und den USA zu beobachten.

Deshalb überrascht die aktuell freundliche Tendenz an den Aktienmärkten zum Jahresausklang wenig.

Interessant ist jedoch die Entwicklung des US-Aktienmarkts, wo immer klarer wird, dass die automatischen Steuererhöhungen (Fiscal Cliff) ab Januar 2013 kaum vermieden werden können. Die US-Parlamentarier haben noch eine Woche Zeit sich irgendwie zu einigen, bevor in Washington die Weihnachtsferien beginnen. 

Präsident Obama und die in der letzten Wahl siegreichen Demokraten treiben die Republikaner derzeit regelrecht vor sich her. Frei nach dem Motto »Nach dem Wahlkampf ist vor dem Wahlkampf« wurden sogar die Wahlkampftruppen zur Unterstützung der Position der Demokraten reanimiert. 
Die Erfolge bleiben nicht aus. Immer mehr »Hardliner«, die ohne Gesichtsverlust unmöglich einem Kompromiss zustimmen können, verlassen die politische Bühne. Zuletzt strich selbst der selbsternannte »Tea Party Senator« "Jim DeMint" aus South Carolina die Segel. Er gibt sein Kongressmandat auf und zieht sich in den konservativen Think-Tank »Heritage Foundation« zurück.
Die Stimmung unter den verbliebenen Republikaneren fasste Bobby Jindal aus Louisiana so zusammen:
“At present, any reading of the headlines over the past week indicates that Republicans are fighting to protect the rich and cut benefits for seniors. It may be possible to have worse political positioning than that, but I’m not sure how.”

Wie ein in die Ecke getriebenes Tier könnten die verbliebenen Republikaner den politischen Suizid einem wie auch immer gearteten Kompromiss vorziehen und die USA ins »Fiscal Cliff« stürzen lassen.  

Diese Gemengelage reflektiert der Aktienpreisverlauf der letzten Wochen.
Hier ein Jahres-Chart des S&P-500-ETF (weiss) und des Stoxx-50-ETF(blau), beides in USD.

Entsprechend der weiter gesunkener Renditen für Anleihen steigen die Aktienpreise in Europa seit einigen Wochen wieder. In den USA dämpft die Sorge um die Auswirkungen des »Fiscal Cliffs« diesen Prozess. Sobald hier Klarheit herrscht, dürften die US-Aktienindizes den europäischen in ihrem Preisverhalten folgen.

Grundsätzlich ist das im Oktober entworfene Szenario zur »Erklärung« steigender Aktienpreisnotierungen also weiterhin intakt.


01.12.12

Ein Hoch auf die Finanzmarktregulierung

Am 21. Juli 2010 unterzeichnete Obama den Dodd–Frank Act zur Regulierung der Finanzmärkte. Hiermit will die Politik Lehren aus der Finanzkrise seit 2007 ziehen. Insbesondere den ungeregelten »Over the Counter« (OTC) -Handel hat die US-Finanzmarktaufsicht bei der Umsetzung der Bestimmungen im Blick.

Was von vielen Marktteilnehmern als Beschneidung ihres Handelsuniversums begriffen wird, öffnet uns möglicherweise neue, profitable Handlungsfelder.


Es geht um Großes: Allein der außerbörsliche Swap-Markt umfasst weltweit ein Volumen von 650 Billionen USD. Die Idee ist, ein zentrales Register aufzubauen, in das die Swaps eingetragen werden. Wenn dieses Register öffentlichen Zugang bietet, was die Intention des Dodd-Frank-Acts ist, lassen sich hierdurch wertvolle Informationen über die Gedankengänge in den Handelsabteilungen institutioneller Marktteilnehmer gewinnen. 


Die Daten werden primär für die Finanzmarktregulierung aufbereitet. Aufbauend auf den Auswertungen des COT-Report für Futures können zukünftig wesentlich detailliertere Sentiment-Auswertungen angefertigt werden. Erstmals vermögen die erhobenen Sentiment-Daten die Positionierung der professionellen Marktteilnehmer in ihrer Gesamtheit zeitnah abzubilden.

Welche Vorteile bieten in diesem Marktumfeld überhaupt noch OTC-Swaps gegenüber Futures ? Einen einzigen: Swaps können individuell zugeschnitten, alles andere kann auch über Futures abgebildet werden.

Das sehen offenbar institutionelle Marktteilnehmer, allen voran Rohstoffhändler, wie Vitol und Trafigura, und Energiemakler (z. B. Tullett Prebon und ICAP) auch so. Allen gemeinsam ist, dass sie jüngst Dependancen in Singapur eröffnet oder erweitert haben. Fakt ist: Zwischen Januar und November 2011 sind die Umsätze in lokalen Rohstoff-Futures um 28 Prozent gestiegen. Möglicherweise ist bald am Futures-Markt eine kritische Masse erreicht, ab dem man auf OTC-Geschäfte weitgehend verzichten kann, da sich die gewünschten Risikoprofile auch liquide mit Futures abbilden lassen. Dieser Prozess wird intern bereits als »Ablöten des OTC-Swap Marktes« bezeichnet.


Eine weitere Entwicklung zielt auf die gleiche Kerbe:
»Block Futures Trades« sind, wie oben ausgeführt, in vielen Fällen ein Pendant zu Swaps. Die CME Group, die größte US-Terminbörse, bietet an, bestehende OTC-Swaps, in »Block Futures« umzuwandeln und so die unbequeme Swaps-Regulierung zu umgehen.

Es scheint, als ob die US-Finanzmarktaufsicht mit ihren Bestrebungen, den Derivatemarkt transparenter zu gestalten, voran kommt, trotz der unermüdlichen Lobbyarbeit der auf Verschwiegenheit erpichten großen Spieler am Markt. Die Regulierung des OTC-Handels nimmt dieser Branche ihre Exklusivität. Plötzlich können auch »Normalsterbliche«, wie wir, die ehemals exklusiven Trading-Setups implementieren.